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Henriettes Reise ins Erdinnere



Ein Wochenende lang wollten sich Frieda Fuchs und Henriette Hase zu zweit erholen. In dieser Zeit wollten sie endlich einmal nur Mädchensachen machen. Ihre männlichen Freunde Lasse Laubfrosch, Ferdinand Fischadler, Nils Nachtpfauenauge und Igor Igel hatten sie deshalb gar nicht erst gefragt, ob sie mit nach Brandenburg fahren wollten. Frieda hatte eine große Landkarte auf einem Tisch ausgebreitet und Henriette hatte mit geschlossenen Augen auf einen Punkt auf der Karte gezeigt. So hatten sie ihr Urlaubsziel festgelegt. Per Zufall waren sie also mitten in einer Landschaft gelandet, in der früher Braunkohle abgebaut wurde.
Zu Anfang hatte es Henriette hier nicht so gut gefallen, aber seit Frieda ihr gezeigt hatte, dass man an renaturierten Tagebau-Restlöchern wunderbar Wildblumensträuße pflücken konnte, genoss Henriette jede Minute. Während Henriette also unten in dem Loch Blumen pflückte, das übrig bleibt, wenn man mit dem Braunkohleabbau fertig ist, durchstreifte Frieda die Wälder, die man am Rand des Tagebau-Restlochs stehen gelassen hatte.

Um Henriette herum hatte man in das Tagebau-Restloch hunderte junge Bäume gepflanzt, damit dort wieder Wald wachsen sollte. Aber die Bäume waren noch sehr klein und so konnte Henriette dazwischen viele Gräser und Kräuter finden. Sie kannte die Pflanzenarten zum größten Teil schon aus der Heide, weil die Pflanzen den kargen Boden, den sie mochten, hier wie dort vorfanden. Gegen Mittag heizte die Sonne die offene Fläche im Restloch immer mehr auf und Henriette wurde es allmählich zu heiß.


Mit einem großen Blumenstrauß in der Hand kletterte sie den Hang hinauf und aus dem Restloch hinaus. Am schattigen Waldrand legte sie sich seufzend zum Dösen hin. Von Frieda war noch nichts zu sehen. Glücklicherweise hatte Henriette den Rucksack mit ihrem Proviant dabei. Sie packte Brote, einen Apfel, eine Wasserflasche und zwei Plastikbecher aus. Beide Plastikbecher füllte sie mit Wasser und stellte ihren Blumenstrauß in einen davon. Den anderen Becher trank sie in einem Zug aus und füllte sich gleich noch einmal Wasser nach. Dann machte sie sich daran die Brote zu verspeisen und blickte kauend in die große Runde über das riesige Tagebau-Restloch.
Das erste Marmeladenbrot hatte Henriette gerade aufgegessen, da sah sie am Rand des Restlochs eine sich nähernde Gestalt. Sie war schwer bepackt, trug einen roten Umhang und sah sich immer wieder um, als wolle sie nicht beobachtet werden. Als Henriette sich die Gestalt näher ansah, erkannte sie, dass es ein Maulwurf war, der zwei große Säcke trug. Ob es nun daran lag, dass Maulwürfe nicht gut sehen können, oder daran, dass Henriette vom hohen Gras verdeckt war, der Maulwurf schien Henriette jedenfalls nicht zu entdecken, als er in einigem Abstand an ihr vorbeiging. Henriette wollte schon einen Gruß hinüberrufen, da verschwand der Maulwurf mit einem Mal am Rand des Tagebau-Restlochs hinter einem Erdhaufen – und blieb verschwunden.


Henriette wartete ein Weilchen, aber der Maulwurf tauchte nicht wieder auf. Da kam Henriette in den Sinn, dass der Maulwurf mit seiner schweren Last in das Restloch gepurzelt sein könnte und vielleicht Hilfe brauchte. Deshalb stand sie auf, um nachzusehen. Sie konnte den Maulwurf aber auch dann nicht entdecken, als sie an die Abbruchkante des Restlochs getreten war und den Hang hinabschaute. Verwundert blickte Henriette sich um.
„Er kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein“, murmelte sie und drehte sich einmal im Kreis.
Sie suchte rundherum nach einer Spur von dem verschwundenen Maulwurf. Da sah sie ein Loch im Boden, das ihr bisher durch Erdhaufen und Ginstergebüsch verborgen geblieben war.
„Ein Maulwurf, der so ein großes Loch benutzt, um unter die Erde zu gelangen, und mit Säcken bepackt heimlich hineingeht? Seltsam!“, fand Henriette.
Sie näherte sich vorsichtig dem Loch und strengte ihr Augen an, um etwas in der Dunkelheit darin zu erkennen. Schließlich stellte sie fest, dass das Loch sogar groß genug war, dass sie selbst hineingehen konnte.
Sie zögerte und rief einmal zaghaft in die Dunkelheit hinein: „Hallo?“ Es kam keine Antwort. Nur das Echo ihrer Stimme verriet ihr, dass dies alles andere als ein kleines Mauseloch war. Also holte Henriette einmal ganz tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und ging einfach in das Loch hinein. Vorsichtig ertastete sie einen Tunnel und folgte dessen Verlauf. Der Tunnel erschien zunächst stockdunkel und führte im Bogen weg vom Tagebau-Restloch in Richtung Wald. Hinter einer scharfen Biegung sah Henriette einen Lichtschimmer an der Tunnelwand, gerade als sie den Rückweg ans Tageslicht hatte antreten wollen.


Nun ging sie weiter auf den Lichtschein zu und bald waren die Tunnelwände in regelmäßigen Abständen von kleinen Lampen erleuchtet, die wie Edelsteine funkelten. Da waren grüne, weiße, gelbe, blaue und rote Lichter. Die rosafarbenen Lampen schaute sich Henriette begeistert aus der Nähe an. Rosa war ja ihre Lieblingsfarbe und Henriette fragte sich schon, wo sie auch so eine schöne Lampe für ihr Zuhause kaufen könnte. Als sie ganz nah an das rosa Licht heranging, erkannte sie, dass die Lampen nicht nur wie Edelsteine funkelten, es waren tatsächlich Edelsteine. Henriette kannte sich zwar mit so etwas nicht aus, aber sie glaubte sogar, dass es echte Edelsteine sein könnten. Sie leuchteten von innen, aber Henriette konnte nicht herausfinden, wie das funktionierte.
„Der Maulwurf muss aber reich sein“, vermutete Henriette und ging weiter in den Tunnel hinein.
Der Weg führte immer ein wenig abwärts und Henriette fragte sich, wie tief sie schon unter der Erde war und wie weit hinunter es noch gehen würde.
„Normalerweise gehen Maulwurfsgänge doch nur bis einen Meter tief unter die Erde!“, dachte Henriette und sagte laut: „Das ist doch alles irgendwie komisch hier!“
„Ist da irgendjemand?“, hörte Henriette plötzlich jemanden vor sich aus dem Tunnel antworten.
Gleich darauf luckte ein schwarzes Gesicht mit kleinen Knopfaugen und spitzer Nase um eine Tunnelbiegung, gefolgt vom restlichen Körper eines Maulwurfs. Der Maulwurf war in einen roten Reiseumhang gehüllt.
„Nanu!“, rief der Maulwurf und kratzte sich am Kopf. „Bist du etwa von der Lebensmittelkontrollbehörde?“
„Lebensmittelkontrollbehörde? Nein.“
„Und was machst du dann hier? Soweit ich weiß, gibt es heute keine Betriebsbesichtigung“, fragte der Maulwurf weiter.
Aber er schien nicht sehr sauer zu sein. Höchstens ein bisschen.
„Naja, eigentlich bin ich sozusagen nur eine Touristin und ganz zufällig hier. Vorhin habe ich gesehen, wie du vor meinen Augen vom Erdboden verschwunden bist, und da hab ich das Loch gefunden. Das kam mir alles so komisch vor. Was ist das denn hier eigentlich für ein Tunnel?“, fragte Henriette zurück.
„Na, das ist der Tunnel zum Wunderland, liebe Alice!“, lachte der Maulwurf. „Fehlt nur noch die Grinsekatze, meinst du nicht?“
„Schon, nur geht bei Alice im Wunderland das Kaninchen voran in den Tunnel zum Wunderland“, entgegnete Henriette lächelnd.
„Und du bist ja auch gar kein Kaninchen, sondern ein Hase, wenn ich das richtig erkenne“, sagte der Maulwurf und kniff seine kleinen Augen noch ein wenig mehr zusammen, um genauer sehen zu können.
„Genau, und ich heiße Henriette“, stellte sie sich vor.
„Ich bin der Matlock!“, sagte der Maulwurf und reichte Henriette seine große Schaufelhand.
„Möchtest du mitkommen und nachschauen, wohin mein komischer Tunnel führt? Ich seh‘ dir doch an der Nasenspitze an, dass du neugierig bist!“, schlug Matlock Maulwurf vor.
„Das würde ich schon ganz gerne, aber darf man das denn?“, antwortete Henriette. „Du hast doch vorhin gesagt, heute sind keine Besichtigungen?“
„Macht nix! Ich bin ja der Chef hier“, erklärte der Maulwurf.
Henriette zuckte mit den Schulter: „Na, dann gehen wir!“
Hinter der nächsten Biegung nahmen Matlock Maulwurf und Henriette Hase die beiden Säcke wieder auf. Die Säcke verströmten einen intensiven Geruch nach Zimt, Chili und anderen Gewürzen.
„Was ist denn da drin?“, fragte Henriette schnuppernd.

Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 229
Mitgliederzeitschrift des Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
>www.verein-naturschutzpark.de




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