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Nah am Wasser gebaut



„Endlich Frühling! Juhuu!“ Das war Henriette, die kreischend der kleinen Gruppe vorauslief: Henriette Hase, Frieda Fuchs, Ferdinand Fischadler und Lasse Laubfrosch. Lasse bildete das Schluss¬licht und kam nicht so recht hinter den anderen hinterher, die lärmend und jubelnd zum Fluss unterwegs waren. Lasse fand das Frühjahr am Anfang immer etwas anstrengend. Ihm war noch so furchtbar kalt und er konnte sich deshalb nur langsam bewegen. Seine Freunde hatten es da besser. Sie waren allesamt gleichwarme Tiere, die ihre Körpertemperatur selber regeln können. Lasse war erst vor ein paar Tagen aus der Winterstarre aufgewacht. Ferdinand war auch erst seit kurzem zurück. Er hatte die kalten Tage im warmen Süden verbracht. Was haben es Fischadler doch gut, dachte Lasse. Jedes Jahr Urlaub in Gambia oder sonstwo. Dass der Flug auch ganz schön anstrengend sein musste, wusste Lasse zwar, wollte aber gerade lieber sein Selbstmitleid ausleben.


„Los, mach mal ein bisschen schneller, Lasse.“ Die aufgedrehte Henriette kam mit Riesensprüngen zurückgerannt, trieb die Freunde an und war schon wieder weit voraus. „Mensch, ich kann doch nicht schneller“, rief Lasse ihr hinterher. „Die ist ja wieder ganz schön wild“, meinte Frieda dazu. „Nimm’s nicht übel, Lasse. Jeder weiß doch, dass Igor noch langsamer ist.“ Ja, Igor Igel war wirklich eine Transuse. Jetzt war schon Ende März und er schlief immer noch. „Hey, apropos Igor. Wollen wir bei Igor nicht mal kurz vorbeischauen? Der wohnt doch hier ganz in der Nähe vom Fluss.


Lass uns mal gucken, ob er immer noch pennt!“ „Au ja!“ Ferdinand und Frieda waren sofort dafür. Henriette musste erst noch in die neue Richtung gelotst werden, was bei ihrem Tempo gar nicht so einfach war.
Nach kurzer Zeit kam schon der Fluss in Sicht. Breit und schnell fließend war er an vielen Stellen weit übers Ufer getreten. Ferdinand sah es zuerst: „Oh, guckt mal. Das Schmelz-wasser hat aus dem trägen Fluss ein richtiges Wildwasser gemacht.“ „Ist doch jedes Jahr das-sel¬be. Wenn’s taut, gibt’s eine Überschwemmung“, fachsimpelte Frieda. „Und wo ist Igors Laubhaufen? Hat er nicht ein bisschen nah am Wasser gebaut?“, meinte Ferdinand. Er und Lasse kicherten über den zweideutigen Witz. Aber Frieda fand das irgendwie gar nicht komisch: „Mist, du hast recht. Schnell, kommt mit!“
Henriette war schnell, aber jetzt konnten die Freunde erstmal sehen, wie schnell ein Fuchs sein kann. Frieda schoss wie nichts über die Wiesen zu der Stelle, an der sie mit Henriette den Igel im Winter in seinem Laubhaufen schlafend vorgefunden hatten. Henriette hüpfte hinterher. Ferdinand flog seine Schleife zuende und drehte dann auch in Friedas Laufrichtung ab. Er holte sie schnell ein. Lasse blieb nichts anderes übrig als langsam hinterher zu kommen.


Als er endlich in Sichtweite von Igors Laubhaufen kam, waren die anderen schon damit beschäftigt, im Laub nach Igor zu suchen. Der Fluss schwappte schon an den Rand und trug ei-nige Blätter mit sich fort. Noch mehr Blätter flogen dort durch die Luft, wo Frieda sich durchwühlte, um Igor zu finden. Sie patschte mit den Hinterbeinen im Wasser und mit den Vorderpfoten im Laub. „Igor, wo bist du? Komm raus.“ „Ist er noch da? Vielleicht ist er schon fortgespült worden?“ „Oder im Schlaf ertrunken?“ Alles redete eine Zeit lang durcheinander. Dann fanden sie Igor end¬lich. „Hier ist er“, rief Ferdinand und wühlte noch ein paar Blätter zur Seite: „Da guckt was raus.“ „Wie geht’s ihm?“, schniefte die aufgedrehte Henriette. Noch eine kurze Schrecksekunde folgte als Frieda mit der Pfote vor Igors Nase testete, ob er noch atmete. „Alles in Ordnung. Er schläft tief und fest“, sagte sie dann endlich.
„Typisch Igor. Neben ihm geht die Welt unter und er pennt seelenruhig weiter“, atmete Lasse auf. „Also hier kann er nicht bleiben. Das Wasser steigt sicher noch mehr an“, sagte Ferdinand, der sich mit so was auskannte, weil er ja regelmäßig am Fluss sein Futter suchte. „Na, dann weck ihn auf. Ich fass den sicher nicht an. Mit seinen ganzen Igelstacheln“, protestierte Henriette. „Da kriegt man ja blutige Pfoten.“ Frieda gab Ferdinand Recht: „Wir müssen Igor hier schnellstens wegschaffen. Zumindest ein paar Meter weiter. Wenn er auch nur halb im Wasser liegt, unterkühlt er.“ Sie schüttelte Igor probeweise durch und brüllte in sein Ohr: „Igor! Aufstehen! Frühling!“ Aber eigentlich wusste sie schon, dass das nichts bringen konnte. Wenn Igor schlief, schlief er eben.
„Versuch’s mal mit Frühstück statt Frühling. Vielleicht hilft das“, feixte Ferdinand. Diesmal kicherte Lasse nicht mit. Ihm waren die Scherze vergangen und er grü­belte. „Vielleicht können wir ihn rollen“, schlug er vor. „Nee, lieber nicht. Nachher rollt er noch ins Was¬ser. Und dann?“, gab Henriette zu bedenken. „Wir brauchen eine Trage. Links und rechts ein Stock und dann klemmen wir Igor irgendwie drauf oder dazwischen“, murmelte Frieda. Lasse lobte: „Da hat der schlaue Fuchs mal wieder zugeschlagen. Das ist die Idee!“ „Es müssen aber dicke Stöcke sein. Igor ist ganz schön schwer“, dachte Frieda weiter. „Los, suchen! Ich guck von oben“, bestimmte Ferdinand Fischadler und schon war er wieder in der Luft. Frieda, Henriette und Lasse durchstöberten die Gebüsche am Ufer.


Dünne Äste und morsches Treibholz waren eine Menge zu finden. Aber nichts, was Igors Gewicht tragen könnte. Die Freunde zogen immer weitere Kreise auf der Suche nach passenden Stö­cken. Schließlich landete Ferdinand wieder und hatte eine gute Nachricht: „Ich hab passende Stöcke gefunden.“ „Und wo sind sie?“, fragte Henriette aufgeregt. „Sie liegen im Fluss. Da ist ein großer Haufen. Sieht aus wie eine Biberburg“, berichtete Ferdinand. „Dann müssen wir sofort dahin. Ich kann schwimmen“, sagte Frieda. „Holen könnte ich die selbst. Ich kann schließlich fliegen. Schon vergessen?“, sagte Ferdinand. „Und? Wo ist dann das Problem?“, fragte Lasse. „Na, das ist eine Biberburg. Da wohnt einer drin“, erklärte Ferdinand. „Oh“, machten die anderen einstimmig. „Und wenn wir mal fragen, ob wir zwei Stö­cke leihen können?“, schlug Henriette vor.


Es blieb ihnen ja nichts anderes übrig. Jetzt suchten sie also den Biber. Und der fand sich auch ziemlich bald. Lasse traf ihn in dem Moment, als er fast von einem Baum erschlagen wurde. „Ui. Entschuldigung. Ich hab dich nicht gesehen, Frosch“, sagte der Biber inmitten von Spä­nen. „Ist ja gerade noch mal gut gegangen“, meinte Lasse echt cool, obwohl sein Froschherz ganz schön pochte. Verwundert schaute er sich um. „Was machst du denn da?“, fragte er. „Bauholz schlagen. Nach der Frühjahrsüberschwemmung muss ich jedes Mal unsere Burg und die Dämme ausbessern. Da fängt man besser früh an, das nö­tige Holz zu besorgen“, antwortete der Biber.


Im Denken war Lasse nicht langsam: „Ach, das trifft sich gut. Kannst du mir zwei Stöcke besorgen? Stark genug, um einen Igel zu tragen?“ Der Biber, noch etwas geschockt, dass er fast jemanden erschlagen hätte, runzelte zwar die Stirn und wunderte sich, fragte aber nichts. „Klar. Hier. Die kannst du gleich nehmen. Nichts für ungut“, sagte der Biber. Aber Lasse hüpfte schon davon. Na ja, so schnell er eben konnte. „Ich hab sie“, rief er.
Bei Igor traf Lasse mit den anderen zusammen.


Dank Ferdinands Ahnung von Sachen, die in der Luft hängen (oder fliegen), hatten sie schnell raus, wie man Igor tragen musste. Igors Hinterteil schleifte zwar ein bisschen über den Boden und er krachte auch einmal wieder runter. Aber ansonsten ging es stetig voran. Ein neuer Laubhaufen weiter weg vom Wasser war schnell gefunden. Henriette packte Igor wieder schön warm ins Laub ein. „Das war eine gelungene Rettungsaktion“, meinte Frieda schließlich und guckte sich den friedlich schlummernden Igor an. Und während sie noch so dastand, schlug Igor gähnend die Augen auf.


Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 215
Die Mitgliederzeitschrift des
Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
>www.verein-naturschutzpark.de



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