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Die Schatzsuche




Bald nachdem Henriette und Nils sich gewaschen und in Friedas Wohnzimmer bequem gemacht hatten, kamen auch Lasse und Krauchbert dort an. Frieda, Ferdinand und Käthe erreichten den Fuchsbau erst im allerletzten Sonnenlicht.
„Nichts gefunden!“, berichtete Ferdinand. „Wir haben weiträumig gegraben, trotz Baumwurzeln, aber nirgendwo etwas Besonderes entdeckt.“
„Nur eine abgedeckte Müllhalde mit Blechdosen und einem alten Fahrrad“, sagte Frieda und warf sich stöhnend in den nächsten Sessel.
Ähnlich war es auch den anderen Gruppen ergangen. Es waren noch ein Tierknochen, wahrscheinlich von einem Reh, im Moor und ein Haufen Zigarettenkippen in der Sandgrube gefunden worden. Sonst nichts.
Man beschloss, sich erst einmal zu stärken. Igor hatte Nudelsalat - für die Fleischfresser mit Fleischbällchen, für die Vegetarier mit Käsehäppchen - und Waldmeisterbowle auf den Tisch gezaubert. Es herrschte erst einmal eine gefräßige, aber auch enttäuschte Stille, in der alle angestrengt nachdachten, wo wohl das Geheimnis der mysteriösen Schatzkarte liegen mochte.
„Schade, dass es nicht vier Kreuze sind!“, meinte Henriette. „Sonst hätten wir am Schnittpunkt der Verbindungslinien suchen können.“
„Das habe ich auch schon überlegt“, sagte Igor. „Zeit zum Nachdenken hatte ich ja, nachdem das Essen fertig gekocht war. Ich meine, wir sollten morgen noch einmal hier suchen.“
Er zeigte auf eine Stelle mitten auf einer Kuhweide zwischen Bauernhof und Großem Fichtenwald.
„Das ist der Schnittpunkt der drei Winkelhalbierenden.“
Henriette verstand nur Bahnhof. Also bekam sie einen kleinen Geometriekurs von Igor und Nils. Nils hatte das Thema aus seinem Mathe-Unterricht, den Frieda ihm manchmal gab, noch ganz frisch im Kopf. Er erklärte es Henriette, und Igor zeichnete dabei mit einem Geodreieck, einem grünen und einem braunen Buntstift auf der Karte ein, was Nils beschrieb:
„Du verbindest die drei Kreuze mit drei Linien zu einem Dreieck, und dadurch bildet sich an jeder Ecke ein Winkel. Siehst du? So! Und die Mitte von diesem Winkel nimmst du und ziehst eine Linie vom Kreuz aus bis ganz rüber. Das ist die Winkelhalbierende. Das wiederholst du an allen drei Ecken. Und die drei braunen Winkelhalbierenden schneiden sich genau hier! Da, wo Igor gesagt hat.“
„Mensch, Igor!“, rief Lasse. „Das wäre ja die Erklärung, warum es für einen Schatz gleich drei Kreuze gibt!“
„Eine ganz heiße Spur!“, bestätigte Käthe Kuh aufgeregt.
„Auf Igor, Meisterkoch und Mathegenie!“, erhob Krauchbert Krähe sein Glas - etwas zu schwungvoll. „Hoppla!“
Igor war das eigentlich ein wenig zu viel Aufmerksamkeit. Deshalb lenkte er schnell ab und sagte: „Wer will noch Nachtisch?“
Es gab Mousse au Chocolat, und an diesem Abend ging keiner ins Bett, dem nicht ein klitzekleines bisschen übel vom vielen Essen war.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück brachen die Freunde auf, um an der Stelle, die Igor herausgefunden hatte, zu suchen. Diesmal gingen alle zusammen.
„Um den Bauern müsst ihr euch keine Gedanken machen. Den übernehme ich“, stellte Käthe klar. „Ich bleibe in Hofnähe und lenke ihn ab, falls er auftaucht.“
Frieda und Igor, der endlich auch mal graben wollte, begannen zunächst damit, die Grassoden rund um das Loch, das sie graben wollten, abzustechen. So konnten sie das Loch hinterher mit den Grassoden wieder abdecken, und keiner würde erkennen, dass jemand mitten in der Wiese gegraben hatte.


Nils, Ferdinand und Krauchbert flogen über ihnen ihre Kreise und behielten die Umgebung im Auge. Aber in der Hitze, die sich auch an diesem Vormittag wieder aufbaute, war kaum jemand unterwegs. Eine Horde Spatzen badete im Sandweg, der zum Bauernhof führte. Ein paar Insekten waren im Klee auf der Weide unterwegs. Irgendwo hinter dem Bauernhof muhte ganz weit entfernt eine Kuh. Sonst war niemand da.
Henriette löste Frieda bald ab, die noch Blasen vom Vortag an den Pfoten hatte. Als Igor eine Pause brauchte, sprang Lasse ein. Und als Henriette und Lasse nicht mehr konnten, grub Igor noch ein bisschen weiter. Als das Loch so tief und groß war, dass zwei von ihnen sich aneinanderhängen mussten, um Igor herauszuziehen, gaben sie es auf.
„Hier ist nichts“, stöhnte Lasse.
„Ich brauch‘ erstmal etwas zu trinken“, ächzte auch Igor.
„Wir müssen das auch noch wieder zuschaufeln. Das ist euch doch wohl klar, oder?“, sagte Frieda zu ihren Freunden, die es sich schon bequem machen wollten.
„Oh nein!“, stöhnten da alle drei.
Aber es half ja nichts. Krauchbert erbarmte sich irgendwann und kam zu ihnen heruntergeflogen, als er sah, dass die vier schon recht kraftlos schaufelten. Mit vereinten Kräften schafften sie es, das Loch wieder zuzuschaufeln und die Grassoden so festzutreten, dass spätestens nach dem nächsten Regen alles wieder wie vorher aussehen würde. Noch enttäuschter als am Vortag machten sie sich auf, um Käthe in der Nähe des Bauernhofs abzuholen.
Als sie sich dem Hof näherten, fiel Henriettes Blick auf den Tümpel an der Zufahrtsstraße.
„Darin würde ich mich jetzt gerne kurz abkühlen“, seufzte sie.
Das ging allen genauso.
„Unserem Kreislauf wird es sicher nicht schaden“, sagte Krauchbert mit medizinischer Fachkenntnis.
Sie sammelten Käthe Kuh ein und nahmen ein kühles Bad an der tiefsten Stelle des Tümpels, wo das Wasser am wenigsten aufgeheizt war.

Als Igor wieder draußen war und sich in der Sonne trocknen ließ, fiel sein Blick auf die Karte, die sie mitgenommen hatten. Er suchte auf der Karte die Stelle, wo sein Laubhaufen sein musste. Danach suchte er andere Orte, die er kannte: Friedas Fuchsbau, Ferdinands Adlerhorst in der Nähe des größten Teiches, die Biberburg im Fluss und noch viele mehr. Igor liebte Karten und konnte sie stundenlang betrachten, ohne dass es ihm langweilig wurde. Dass man die Welt so leicht abbilden konnte, so dass jeder sich zurechtfinden konnte, begeisterte ihn immer wieder. Er suchte den Punkt, an dem er sich gerade aufhielt, am Tümpel, und stutzte.
„Der Tümpel liegt genau auf der Verbindungslinie zwischen dem Kreuz im Moor und dem in der Sandgrube“, stellte er fest.
„Was hast du gesagt?“, fragte Henriette, die neben ihm im Gras trocknete.
„Ach, ich guck nur so rum. Der Tümpel liegt zufällig auf einer Verbindungslinie“, erklärte Igor.
Lasse kam näher und schaute Igor über die Schulter.
„Vielleicht ist das gar kein Zufall“, sagte er nachdenklich.
Sofort waren alle wieder hellwach und umringten die Karte.
„Ja, sieh mal!“, rief Frieda. „Wenn man vom dritten Kreuz im Wald aus im rechten Winkel an diese Verbindungslinie geht, ist der Schnittpunkt genau im Tümpel!“
„Die Linie vom Waldkreuz trifft genau hier im rechten Winkel mit der Verbindungslinie der anderen Punkte zusammen?“, fragte Ferdinand, der in zweiter Reihe stand und nicht recht auf die Karte gucken konnte.
„Ich geh‘ tauchen“, sagte Käthe Kuh und sprang mit einem lauten Platscher wieder in den Tümpel.
Alle außer Nils, dessen Flügel nicht so nass werden durften, folgten ihr und tauchten im Tümpel umher.
„Ihr müsst weiter darüber, glaube ich!“, rief er ihnen zu und studierte die Karte.
Er kramte in Igors Rucksack und suchte sich einen lilafarbenen Buntstift und das Geodreieck. Damit zeichnete er auf der Karte ein, was sie gerade entdeckt hatten.


Als er den neuen Punkt im Tümpel eingezeichnet hatte, konnte er die Freunde genau zur richtigen Stelle dirigieren.
Käthe Kuh tauchte auf und hatte etwas zwischen den Zähnen.
„Öch haps!“, rief sie.
Die Kuh zog einen blauen Plastiksack an Land, der ganz fest zugeknotet war. Er war aus ziemlich dickem Plastik, und es schwappte kein Wasser darin herum. Scheinbar war der Inhalt halbwegs trocken geblieben. Die Freunde brauchten ziemlich lange, bis sie die Knoten gelöst hatten, vor allem weil sie so aufgeregt waren, dass ihre Finger ganz fahrig waren. Und weil zu viele auf einmal mithelfen wollten.
„Geschafft!“, rief endlich Lasse und zog den Sack auf.
In dem Sack war es tatsächlich recht trocken. Sie fanden darin eine kleine Metallkiste, die Ferdinand vorsichtig herausnahm.
„Frieda, du hast die Karte damals gefunden“, sagte er feierlich und hielt ihr die Kiste hin. „Du darfst den Schatz öffnen.“
Frieda war sehr gespannt. Sie setzte sich auf ihren Hintern und stellte die Metallkiste vor sich zwischen ihre ausgestreckten Beine. Dann hob sie vorsichtig den Deckel der Kiste an, der etwas schwergängig war. Ein bisschen Rost hatte der Schatz doch schon angesetzt.
„Der Sack ist da jedenfalls nicht erst seit gestern versteckt“, stellte sie fest. „Das muss schon Jahre unter Wasser gehangen haben.“
„Hing auch recht tief“, sagte Käthe Kuh. „So tief trocknet der Tümpel nie aus, selbst in so heißen Jahren wie in diesem.“
„Jetzt mach es nicht so spannend!“, schrie Henriette plötzlich laut. „Ich halt‘s nicht mehr aus! Was ist da drin?“
Frieda hob den Deckel ganz hoch und klappte ihn zurück, damit alle sehen konnten.
„Oh!“, machten Lasse und Nils.
„Das ist ja was!“, meinte Krauchbert.
„Boah!“, machte Ferdinand.
In der kleinen Kiste lagen alte Spielsachen, eine kleine Spielzeugkuh aus Holz, ein kleines Modellflugzeug, das Ferdinand bewundernd und ganz vorsichtig aus der Kiste nahm, eine alte Schlangenhaut, das verblichene Gehörn von einem Rehbock, eine riesige Muschel, einige glatte, flache Steine (ideal, um sie auf einer Wasseroberfläche mehrfach aufdittschen zu lassen), Tannenzapfen, kleine Stückchen von Eierschalen, bunte Vogelfedern, eine getrocknete Rosenblüte, mehrere Fotos und einiges mehr.
Die Fotos nahm Krauchbert heraus und sah sie nacheinander an.
„Das sind ja ganz persönliche Dinge“, bemerkte Nils.
„Lauter feine Sachen!“, sagte Henriette und bestaunte die schönen Federn.
„Guckt mal, das ist doch der Typ, der jetzt in die Jagdhütte eingezogen ist!“, sagte Krauchbert und zeigte ein Foto herum. „Aber da ist er noch ein Kind mit seinem Vater.“
„Und hier mit einem Dackel, den ich nicht kenne“, fuhr er fort und zeigt das nächste Foto. „Und hier auf dem Rücken eines Pferdes. Das Pferd kenne ich auch nicht. Ihr vielleicht?“
Keiner kannte den Dackel oder das Pferd. Aber irgendwie konnte man den kleinen Jungen wiedererkennen. Das war eindeutig der Mann, der lieber in der Sonne saß als zu schießen.
„Der Schatz eines kleinen Jungen!“, stellte Igor fest. „Bestimmt hat er das Versteck längst vergessen.“
Lasse fragte: „Ob er sich freuen würde, seine Sachen wiederzubekommen?“
„Er scheint seinen Papa lieb gehabt zu haben. Und den Dackel auch“, sagte Käthe mit belegter Stimme.
Dann trat eine neue Stille ein. Diesmal keine, in der sie nachdachten oder gespannt waren. Diesmal war es eine Stille, in der man sich einig wird, ohne zu sprechen.
„Ich bring‘ das dahin“, sagte Käthe Kuh.
„Ich komme mit“, sagten Henriette und Ferdinand gleichzeitig.
Damit war das beschlossen.
„Bis später!“, riefen die anderen Freunde den dreien hinterher.
„Nachher gibt’s Mittag bei Frieda“, rief Igor, dem schon wieder der Magen knurrte.

Es war unnötig, darüber zu sprechen, was man nun zu tun hatte. Käthe, Henriette und Ferdinand gingen zur Hütte, näherten sich vorsichtig und, als sie sichergestellt hatten, dass der Mann in der Nähe Holz hackte, schlich Henriette mit der Kiste vorsichtig in die Hütte. Sie stellte sie mitten auf einen großen Tisch und lief schnell wieder zu Käthe und Ferdinand, die sich derweil im Dickicht versteckt hielten.
Damit der Mann aufhörte, Holz zu hacken, ließ Ferdinand einen Kiefernzapfen von oben auf seinen Kopf fallen. Das klappte auch gleich. Gut gezielt! Der Mann dachte wohl, der große Vogel, der über ihm kreiste, hätte ihm auf den Kopf gekackt, denn er wischte sich über die dunklen Haare und betrachtete daraufhin prüfend seine Handfläche. Nichts zu sehen. Jetzt wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und murmelte vor sich hin: „Wird auch wieder Zeit für eine Pause.“
Er legte seine Axt zur Seite und ging in die Hütte.
Mit staunendem Gesicht kam er gleich darauf wieder heraus und hielt die kleine Metallkiste in den Händen. Seine Schatzkiste, die er als Kind versteckt und irgendwann vergessen hatte!
Er blickte sich um. Käthe, Ferdinand und Henriette duckten sich noch tiefer ins Dickicht und trauten sich kaum zu atmen. Als sie das selige Lächeln des Mannes sahen, der immer noch aussah wie ein kleiner Junge, wussten sie, dass sie ihren Auftrag erledigt hatten. Sie machten sich auf den Heimweg, um ihren Freunden zu berichten, dass sie heute jemandem eine große Freude gemacht hatten.



Quelle:

Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 242
Mitgliederzeitschrift des Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
>www.verein-naturschutzpark.de



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